Essay von Maksim Goriunov

Zwischen sowjetischem Weißrussland und souveräner Belarus: Warum junge Weißrussen es vorziehen, das Land zu verlassen

Ein Essay von Maksim Goriunov zur Diskussion in Minsk

Junge Bürger aus Weißrussland interessieren sich weniger als ihre Altersgenossen in der Ukraine und in Russland für Politik und bemühen sich mit mehr Energie ihr Land zu verlassen. Politisches Desinteresse und schwache Heimatgefühle erklären sich unter anderem damit, dass die Weißruss*innen trotz ihrer dreißigjährigen Unabhängigkeit keine politische Nation geworden sind.

Die Europäische Union ist in der Nähe

Im Vergleich zu Russland und der Ukraine grenzt Weißrussland unmittelbar an die EU. Die nächste europäische Hauptstadt, Vilnius, ist mit dem Schnellzug nur zwei Stunden von Minsk entfernt: Hinzu kommt eine Stunde Abfertigungszeit beim behäbigen litauischen Zollbeamten. In Vilnius fühlen sich die Bürger von Weißrussland nicht fremd. Im historischen Stadtzentrum gibt es viele Gedenktafeln mit den Namen weißrussischer Dichter und Politiker. Die erste weißrussische Zeitung, Nascha Niwa, wurde 1905 in Vilnius herausgegeben. Die Zeitung gibt es bis heute und sie wird gelesen. Litauen und Weißrussland sind aus dem Großherzogtum Litauen hervorgegangen. Die Staatswappen Litauens und Weißrusslands vor Lukaschenko – ein Reiter auf einem sich aufbäumenden Pferd – unterschieden sich nur im Detail: Der Schwanz des litauischen Pferdes wird angehoben, der des weißrussischen hängt herab.

Minsk wird nicht von Billigfliegern angeflogen. Die Weißruss*innen nutzen den Flughafen in Vilnius, wo diese landen. Busse von Minsk nach Vilnius halten stets am Hauptflughafen Litauens, den die Weißruss*innen scherzhaft „Minsk 3“ nennen. (Der nationale Flughafen von Weißrussland heißt „Minsk 2“.)

Bauernschläue vs. Nationalromantik

Niedriger Lebensstandard, das strenge autoritäre Regime und die Nähe zur EU: im Falle von Weißrussland muss man zu diesen drei universellen Motiven für die Emigration junger Menschen eine nationale Besonderheit hinzufügen. Genauer: deren Abwesenheit. Offiziell ist Weißrussland ein monoethnischer slawischer Staat wie Slowenien. Der Volkszählung von 2010 zufolge sehen sich 85% der Bürger als Weißruss*innen. Jedoch gaben nur 50% an, dass sie die weißrussische Sprache beherrschen, und nur 21% sprechen sie zu Hause. Sie bevorzugen Russisch. Die Kluft zwischen der nationaler Identität und der zu Hause gesprochenen Sprache verweist auf Probleme mit der Identität, die die Slowenen heute nicht kennen.

Der tschechische Historiker Miroslav Groha, Urheber der maßgeblichen Klassifizierung der osteuropäischen Nationalismen, zählt die Weißruss*innen zu den „verspäteten Nationen“ (opožděný národ). Trotz der gigantischen Unterschiede in den Bedingungen haben die heutigen Weißruss*innen, die den IT-Markt beherrschen, und die ungebildeten slowenischen Bauern, die im Schweiße ihres Angesichts ihren feudalen Pflichten nachkommen, eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie sind gleich weit entfernt von einer breiten politischen Solidarität, die auf einem gemeinsamen Ursprung beruht.

Die letzte Nicht-Nation Europas

Die Weißruss*innen unterscheiden sich offiziell durch nichts von den heutigen Slowenen. Wie die Slowenen haben die Weißruss*innen ihre eigene souveräne, durch die UNO anerkannte Republik. Sie haben eine Verfassung, ein Parlament, Steuerbehörden und eine große Vielfalt von Museen, einschließlich Burgen und pompöser Residenzen des früheren örtlichen Landadels. Wenn wir die Armeen vergleichen, so ist nicht ausgeschlossen, dass mehr für die Souveränität Weißrusslands spricht. Der einzige Unterschied: Die Weißruss*innen fühlen sich nicht als Nation. In dieser Hinsicht ähneln sie den Vorfahren der heutigen Slowenen. Junge Weißruss*innen leben in einer Gesellschaft, die sich der Grenzen zwischen ihnen und ihren Nachbarn kaum bewusst ist. Weißrussland ist sich weniger als Russland und seit einiger Zeit die Ukraine ihrer Absonderung bewusst.

Wie die slowenischen Bauern vor dem „Frühling der Nationen“ ihre Identität nicht schätzten und in ihr ein Zeichen niedrigen sozialen Status sahen, suchen die Weißruss*innen, die unter ihrem kolonialen Minderwertigkeitskomplex leiden, nach einer Möglichkeit, Russ*innen (oder Pol*innen oder Litauer*innen oder Deutsche) zu werden und schämen sich ihrer Herkunft.

Mit Ausnahme der Intellektuellen und derjenigen, die sich für solche halten, versucht die breite Masse der Weißruss*innen die erfolgreicheren ausländischen nationalen Identitäten anzunehmen. Aus den gleichen Gründen wollten die slowenischen Bauern Deutsche und Italiener werden und ihren Feudalherren gleichen. Diese Bereitschaft zum Wechsel der Identität macht Weißruss*innen zu idealen Einwanderern: Nach der Umsiedlung passen sie sich wie Wasser an die neue Form an und vergessen die frühere.

Die Flucht aus Minsk in den Westen

In Bezug auf die Anzahl der Schengen-Visa nimmt Weißrussland regelmäßig vor 140 anderen Ländern, deren Bürger eine Erlaubnis für die Einreise in die EU benötigen, einen Spitzenplatz in der Welt ein. Im Jahre 2014 erhielten Weißruss*innen ungefähr 900.000 Visa. Mit anderen Worten, jeder zehnte Weißrusse, einschließlich Säuglingen und gebrechlichen Greisen, hat ein EU-Visum. Meistens handelt es sich um ein Visum von Litauen, Polen, Deutschland, Italien, Lettland oder Estland.

Seit 2008 wurden in Weißrussland fast 100 000 „Polenkarten“ ausgestellt – Bescheinigungen, die bestätigen, dass ein Bürger der GUS oder des Baltikums dem polnischen Volk angehört. Das ist die Hälfte der Gesamtzahl. Der Volkszählung von 2010 zufolge haben mindestens 200.000 weitere Menschen darauf Anspruch. In Litauen kennt man keine „Litauerkarte“. Weißrussische Publizisten verfechten jedoch eine „Theorie des baltischen Substrats“. Ihrer Meinung nach sind die Weißruss*innen slawisierte Balten. Demzufolge ist der Weißrusse ein Litauer, der einst seine baltische Muttersprache vergessen hat. Und daraus folgt: Wenn man die Gelegenheit hat nach Litauen auszuwandern, seinen Namen in einen litauischen abzuändern und Litauer zu werden, sollte man sie nutzen

Die Flucht von Minsk nach Osten

Die Grenze zu Russland ist trotz der ständigen Handelskriege immer noch offen. Russisch ist offiziell die zweite Amtssprache, doch in Wirklichkeit ist sie die erste und nahezu einzige. In Weißrussland werden russische Fernsehsender und elektronische Medien empfangen. Der düstere Zauber des alternden nördlichen Imperiums bleibt in Kraft. Wie ihre Vorfahren versuchen die Weißruss*innen, ihre Kinder von ihrer Muttersprache fernzuhalten. Nach wie vor scheinen die russische Sprache und die russische Identität mehr Perspektiven zu bieten.

Der Wunsch, zur russischen Sprache zu wechseln, ist so beharrlich, dass weißrussische Intellektuelle, die versuchen „nüchtern zu denken“, bereit sind zuzugeben, dass die Zeit verstrichen ist und die Tage der weißrussischen Sprache gezählt sind. Was die Zukunft ihres Landes betrifft, ziehen sie Parallelen zu Irland, das seine Muttersprache Gälisch aufgab, durch Englisch ersetzte, und trotzdem das Land der Iren und nicht der Engländer blieb.

Man kann sagen, dass sich in Weißrussland die Assimilation fortsetzt, die vor zwei Jahrhunderten unter Zar Nikolai I. begann. Nach den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts wurde Weißrussland Teil des Russischen Imperiums. Nach einigen Zweifeln erkannte St. Petersburg, wie der Historiker Michail Dolbilow schreibt, die Weißruss*innen als Teil des russischen Volkes an, die von den Polen und dem Katholizismus „verdorben“ worden waren. Daraufhin begann die Russifizierung. Im Jahre 1839 wurde die griechisch-katholische Kirche liquidiert, zu der sich die Mehrheit der Bevölkerung dieser Region bekannte. Da die Liquidation durch die reguläre Armee zusammen mit den Kosaken durchgeführt wurde, konvertierten die Weißruss*innen innerhalb weniger Wochen leicht, einstimmig und, wie die damalige Presse schrieb, „mit aufrichtiger Begeisterung“ zur Moskauer Orthodoxie. Die Romanows waren bis zum letzten Tage davon überzeugt, dass die armen Bauern, die in den dünnbesiedelten Sümpfen westlich von Smolensk lebten, dazu verurteilt waren, Großruss*innen zu werden. Aus diesem Grund wurde die erste weißrussische Schule erst 1915 nach der Besetzung der Stadt durch die deutschen Truppen in Vilnius eröffnet

Lenin und sein Nationalismus

Die Weißruss*innen kennen keine Geschichte nationaler Befreiungskriege, vergleichbar mit den ukrainischen oder polnischen. Sogar im Vergleich zu den Slowenen, die wegen ihrer geringen Bevölkerung häufig Kompromisse eingingen, verhielten sich die Weißruss*innen passiv. Ihre am 25. März 1918 ausgerufene Volksrepublik war schwach, existierte nicht lange und schickte nicht ausreichend viele Soldaten der Roten Armee ins Jenseits, um Moskau zu zwingen, auf sie Rücksicht zu nehmen. Und dennoch bekamen die Weißruss*innen ihr Weißrussland. So seltsam es auch scheinen mag, verdanken sie seine Entstehung den Marxisten. Die Auseinandersetzungen, an deren Ende sich die Überzeugung durchsetzte, dass die Kolonien – alle ohne Ausnahme – ein Recht auf Selbstbestimmung erhalten sollten, traten zunächst auf Kongressen der österreichischen Marxisten auf, anschließend bei den russischen.

Die Historikerin Alena Markowa beschreibt in ihrem Buch „Der Weg zur sowjetischen Nation. Die Entstehung Weißrusslands (1924–1929)“ sehr detailliert, wie die Bolschewiki, angeführt zunächst von Lenin, später von Stalin, auf die Programme der österreichischen Marxisten Otto Bauer und Karl Renner gestützt, den weißrussischen Bauern eine Volksrepublik nahezu aufdrängten. Markowa beschreibt Fälle, in denen die Bauern gegen Schulen in ihrer Muttersprache protestierten. Der kolonialen Gewohnheit folgend hielten sie ihre Sprache für minderwertig und verlangten Bildung auf Russisch, der Sprache der Metropole, der Karriere und der Sprache ihrer Herren. Die Bolschewiki ließen sich jedoch nicht beirren. In Anbetracht der Erfahrung des Zusammenbruchs des österreichisch-ungarischen Imperiums beschlossen sie, wie Timothy Martin schreibt, sich vor der Bedrohung durch „bürgerliche Nationalisten“ rechtzeitig zu schützen. Zu diesem Zweck schufen die Bolschewiki anstelle der ehemaligen Kolonien eine Reihe von Republiken, die ihnen loyal waren, „national gesinnt und dem Inhalt nach sozialistisch“. Der national-progressive Enthusiasmus, der den Weißruss*innen helfen sollte, ihre eigene Republik mit allen notwendigen Institutionen zu gründen, tappte bereits in einem frühen Stadium in die Lenin-Falle und mündete ins Nichts.

75 Jahre lang führte die Rhetorik, die der üblichen nationalen recht nahe kam, in Weißrussland nicht zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft, wie dies im oben genannten Slowenien der Fall war. Im Gegenteil, es war die Rhetorik der Loyalität gegenüber dem Imperium und des Hasses auf bürgerlichen Aktivismus. Ende Oktober 2018 sind für die Aktion „Die Nacht der erschossenen Dichter“ – im Gedächtnis von 132 weißrussischen Intellektuellen, die auf Stalin‘s Befehl getötet wurden – knapp hundert Leute gekommen. In den benachbarten Baltischen Staaten nehmen an solchen Veranstaltungen die Presidenten teil.

Zwillinge an der Wolga, am Ural und in Sibirien

Eine ähnliche Situation der Sprache und Identität kann man in den Volksrepubliken innerhalb der Russischen Föderation beobachten. Die Udmurten, Tschuwaschen und Baschkiren wechseln wie die Weißruss*innen in Massen zur russischen Sprache und nehmen die russische Identität an. 1991 löste sich die UdSSR im Białowieża-Urwald auf. Zugleich löste sich die RSFSR jedoch nicht auf, sondern wurde zur Russischen Föderation. Moskau verfügt damit über 20 Volksrepubliken mit eigenen Verfassungen und Amtssprachen. Und weitere 10 nationale Formationen, darunter zum Beispiel die jüdische autonome Region an der Grenze zu China.

Die Position des neuen Moskau in Bezug auf die Republiken formulierte der ehemaligen Minister für nationale Politik der Russischen Föderation, der Akademiker Waleri Tischkow, auf erschreckende Weise. Tischkow glaubt, dass Wladimir Lenin einen Fehler gemacht habe, als er das Recht der Völker auf Selbstbestimmung „bis hin zur Abspaltung“ zur Grundlage der Nationalitätenpolitik der UdSSR gemacht habe. Stattdessen glaubt Tischkow, dass sich in Russland, beginnend mit der Zeit der Romanows, eine ganz Russland umfassende Staatsnation gebildet habe. Russland unterscheidet sich durch nichts von Frankreich, das regionale Identitäten systematisch durch eine universelle französische ersetzte. Was Paris auf Korsika und in der Bretagne gestattet ist, darf Moskau an der Wolga nicht verboten werden. Ohne Lenin, so ist sich der Akademiker sicher, wären Kiew und Minsk für immer in Russland geblieben. Lenin band sie nicht an Moskau, wie er behauptete, sondern verstieß sie, indem er ihre Sprachen legalisierte. Waleri Tischkow schlägt vor, Lenins Projekt abzubrechen und zum Romanow-Projekt zurückzukehren. Die Republiken sollten aufgelöst werden und ihre Sprachen sollten den Status einer dem Russischen ebenbürtigen Amtssprache verlieren.

Die Udmurten, Tataren, Tschuwaschen und weitere 200 Nationen, die innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation leben, sollten mit der Zeit zu Universalruss*innen werden, zu Bürgern Russlands, so wie Bretonen zu Universalfranzosen, zu Bürgern Frankreichs wurden. In diesem Jahr hörten die Amtssprachen der Republiken, ohne ihren Status zu verlieren, auf, an den Schulen verpflichtend unterrichtet zu werden, sie wurden zu Wahlfächern. Die Empörung darüber blieb aus.

Der Grund dafür ist, dass die von Lenin errichteten Republiken sich über Folklore, nicht national definierten. Moskau ließ die Freiheit der Ornamente zu und beanspruchte für sich die politischen Freiheiten. Die Udmurten konnten das Schicksal ihrer Republik nicht selbst in die Hand nehmen. In der Folge geben sie ihre folkloristische Identität, die frei war von politischen Inhalten, für die russische auf. Von 1989 bis 2010 sank die Zahl der Udmurten in Russland um 200.000. Die Situation ist, wenn auch nicht mit der weißrussischen identisch, so doch sehr ähnlich.

Harvard auf Weißrussisch

Zur Zeit sieht der Weißrusse, weit entfernt von jeder Nationalromantik, für sich und seine Kinder immer noch keine bessere Perspektive als die russische Sprache und die damit verbundene Karriere in der russischen Rohstoffwirtschaft. Er weiß konkret, was zu tun ist, um Erfolg zu haben. Russisch ohne weißrussischen Akzent ist eine Kernkompetenz. Andererseits besteht der Verdacht, dass die Feindseligkeit der Weißruss*innen gegenüber ihrer eigenen Muttersprache und das Streben nach „hoher russischer Kultur“ nicht auf Liebe, sondern auf Berechnung beruht.

Als Ende 2014 der Rubel dreimal abgewertet wurde und das durchschnittliche Gehalt in Moskau auf das Niveau des Gehalts in Minsk fiel, wurden fast sofort billige Busfahrten nach Warschau angeboten. Von Witebsk, dem östlichsten regionalen Zentrum, gab es Fahrten bis nach München. Die Busgesellschaft, die seit 20 Jahren Arbeiter aus Weißrussland nach Moskau und St. Petersburg gefahren hat, fährt sie jetzt zweimal wöchentlich nach Deutschland. Die Fahrt dauert 38 Stunden, kostet aber weniger als ein regulärer Flug der staatlichen monopolistischen Fluggesellschaft „Belavia“. In diesem Sommer diskutierte ganz Weißrussland, besonders der „verheiratete Teil mit Kindern“, heftig über die eigenständige Aufnahme Maxim Bogdanowitschs, eines 16-jährigen Schülers aus Minsk, in Harvard. Alle kennen die für Weißrussland unglaubliche Tatsache: In Erwartung der Ergebnisse besuchte der Schüler gebührenpflichtige Kurse seiner Muttersprache in einem privaten Nachhilfezentrum. Der junge Mann gab dem wichtigsten unabhängigen Portal Weißrusslands ein Interview in perfektem Weißrussisch und nicht auf Russisch. Vor dieser Geschichte befanden sich Harvard und die weißrussische Sprache in größtmöglicher Entfernung voneinander. Der Weg von Minsk nach Harvard führte über Moskau, über die Ersetzung der weißrussischen Sprache durch die russische. Von Minsk unmittelbar nach Harvard zu gelangen, unter Umgehung Moskaus und Dostojewskis, ist möglich, und das Wissen um diese Tatsache wird die Weißruss*innen in naher Zukunft zu sich selbst zurückführen.

Fidel Castro oder Lee Kuan Yew?

Trotz seines Status als „letzter Diktator Europas“ haben die Bürger Weißrusslands keine Angst vor ihrem ewigen Präsidenten. Die norwegische Journalistin Erika Fatland, Autorin eines Buches über eine Reise durch fünf zentralasiatische Staaten, ist der Meinung, dass die Kulte um Lukaschenko in Weißrussland, um Nasarbajew in Kasachstan und um Berdymuchamedow in Turkmenistan wenig gemeinsam haben. Nasarbajew und Berdymuchamedow werden auf offener Straße nicht kritisiert. Vor allem, wenn ein ausländischer Journalist die Kritik hören könnte. Überall in Kasachstan und Turkmenistan hängen die Porträts dieser Anführer. In Weißrussland nicht. Die Weißruss*innen schimpften Fatland zufolge gerne über Lukaschenko und beklagten sich bei ihr über seine Grausamkeit und Tyrannei. Seine Parade-Porträts kann man in staatlichen Buchhandlungen finden. Aber nicht auf den Plätzen oder an den Hauswänden. Nach der Annexion der Krim änderte sich die Einstellung gegenüber Weißrussland deutlich. Einige der über das Land verhängten Sanktionen wurden aufgehoben. Die Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs besuchten Minsk im Rahmen des Treffens des Normandie-Quartetts. Lukaschenko scheint kein Ausgestoßener mehr zu sein.

Im Frühjahr 2018 verglichen der Redaktionsleiter von Forbes Finnland, der ehemalige Chefredakteur von Forbes USA, Tom Post, und der Herausgeber von Forbes Lettland, Estland und Finnland, Arkadi Steimans, Lukaschenko mit Lee Kuan Yew. Ein paar Tage in Minsk auf Einladung des weißrussischen IT-Unternehmens Humansee Labs „öffneten ihnen die Augen“. Offensichtlich ist Lukaschenko keine Kopie Fidel Castros. Er ist ein autoritärer, doch fortschrittlicher Staatslenker wie Lee Kuan Yew, der Urheber des Wunders von Singapur. Dementsprechend ist Weißrussland unter Lukaschenko nicht wie Kuba unter Fidel, sondern eine Kopie der „asiatischen Tiger“ zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Man kann Forbes der Schmeichelei verdächtigen; mit dem Ziel, in den Medienmarkt Weißrusslands einsteigen zu wollen. Forbes hat eine reichhaltige positive Erfahrung mit der Arbeit in autoritären Ländern. In Kasachstan hat sich Forbes mit Nursultan Nasarbajew arrangiert. Forbes Russland trennte sich ein Jahr nach der Annexion der Krim von den Experten, die die Annexion kritisierten. Die Zeitschrift ist jetzt „ausschließlich dem Business“ gewidmet und die Herausgeber fühlen sich großartig dabei, auch wenn sie in den Medien dadurch auf heftigen Gegenwind stößen.

Wenn Forbes trotz der Erschießung von Arbeitern in Schangaösen mit Nasarbajew und trotz der Annexion der Krim mit Putin eine gemeinsame Sprache gefunden hat, warum sollte man dann nicht auch die Beziehungen zu Lukaschenko verbessern? Man sollte jedoch beachten: Hätte sich Lukaschenko wie Fidel Castro benommen, wäre dieser Versuch kaum möglich gewesen.

Nach Meinung des weißrussischen Politikwissenschaftlers Andrej Kasakewitsch hat Lukaschenko in der Tat viel mit den linken südamerikanischen Diktatoren gemeinsam. Doch im Unterschied zum verstorbenen Castro und zum lebendigen Maduro reichte sein Verstand, um den Weg der Verbesserung einzuschlagen. Zumindest den Anschein zu erwecken.

Ein Laboratorium des russischen Autoritarismus

Die besorgniserregende Situation in Weißrussland ist ein weiteres wichtiges Motiv für die Emigration junger Menschen. Wenn sie im eigenen Land bleiben, ist nicht ausgeschlossen, dass sie lernen müssen, „auf russische Weise zu leben“, so wie es die jungen Menschen auf der Krim bereits lernen. Die Residenz des weißrussischen Präsidenten in Minsk wird hinter vorgehaltener Hand die „Präsidenz des Residenten“ genannt – eine Anspielung auf die Unterwürfigkeit Lukaschenkos gegenüber dem östlichen Nachbarn.

Der berühmte weißrussische Experte Pawel Ussow, Leiter des Warschauer Zentrums für politische Analyse und Prognose, prophezeit regelmäßig einen baldigen und starken Abbau der Souveränität des Landes. Ihm zufolge erwartet Weißrussland nach 2020 die größtmögliche Annäherung an Moskau. Im Oktober 2018 bemerkte Lukaschenko während eines Treffens mit Wladimir Putin in der weißrussischen Stadt Mahiljou in der Nähe zur russischen Grenze, dass Mahiljou „russischer ist als weißrussisch, da es im Osten Weißrusslands liegt“. Der für seinen Pessimismus bekannte Pawel Ussow, Leiter des Warschauer Zentrums für politische Analyse und Prognose, prophezeit regelmäßig einen baldigen und starken Abbau der Souveränität des Landes. Ihm zufolge erwartet Weißrussland nach 2020 die größtmögliche Annäherung an Moskau.

Im Oktober 2018 bemerkte Lukaschenko während eines Treffens mit Wladimir Putin in der weißrussischen Stadt Mahiljou in der Nähe zur russischen Grenze, dass Mahiljou „russischer ist als weißrussisch, da es im Osten Weißrusslands liegt“. Die weißrussischen sozialen Netzwerke gerieten in Panik. Es gab viele Beiträge darüber, dass Lukaschenko bereit ist, die Stadt an Russland zu vergeben. Angesichts des Misstrauens gegenüber Lukaschenko, der Annexion der Krim und des anhaltenden Krieges im Osten der Ukraine ist diese Reaktion durchaus verständlich. Die Leidenschaften verstummten nicht, bis der ukrainische Präsident Petro Poroschenko zwei Wochen später die Stadt Homel in der Nähe von Mahiljou besuchte. Während des Treffens bemerkte Alexander Lukaschenko, dass Homel „sich in nichts von den schönen ukrainischen Städten unterscheidet“. Offensichtlich handelte es sich um eine grobe Höflichkeit Lukaschenkos und die Bewohner von Mahiljou müssen keineswegs die russische Nationalhymne lernen. Einerseits ist das lächerlich. Andererseits ist das langfristige Planen unter solchen Bedingungen nicht allzu angenehm

Die Bequemlichkeit weißrussischer Gefängnisse

Man kann nicht sagen, dass es für den weißrussische Pass überhaupt keine Argumente gibt. Wie der Patriarch der weißrussischen Philosophie, Walentin Akudovitsch, scherzhaft feststellte, sitzen die Weißruss*innen dank ihrer Souveränität jetzt nicht mehr in den schrecklichen sibirischen Lagern. Die Gerichte in Weißrussland sind nicht besser als die russischen, doch die Gefängnisse sind ordentlicher und liegen 3000 Kilometer näher an Zuhause. Richter in Schweden haben übrigens einen besseren Ruf und die Möbel in schwedischen Gefängnissen sind bequemer als in einigen weißrussischen Hotels: Wenn man schon ins Gefängnis muss, ist dies ein Kriterium: Warum sollte man nicht Skandinavien wählen?

Neben der Freiheit von sibirischer Zwangsarbeit sind die Weißruss*innen auch frei, sich nicht an den Kriegen zu beteiligen, die Russland führt. Der letzte Krieg, an dem die Weißruss*innen teilnahmen, war in Afghanistan. Von 1979 bis 1989 fielen in den Hindukusch-Bergen 771 Weißrussen bei diesem „internationalen Einsatz“. 1500 wurden verletzt. Die erste weißrussische Literaturnobelpreisträgerin, Swetlana Alexijewitsch, veröffentlichte 1989 das Buch Zinkjungen. Es ist eine ausgezeichnete Dokumentarprosa und besteht aus Interviews mit Teilnehmern der Kampfhandlungen: mit Veteranen, mit Feldchirurgen, mit Invaliden. Ihre Worte sind voller Schmerz und Enttäuschung. Den ländlichen Afghanen den Koran zu nehmen und sie Lenins Werke lesen zu lassen, ist nicht das augenfälligste Ziel. Man sollte erneut nicht vergessen, dass Schweden schon seit drei Jahrhunderten keine Kriege mehr führt.

Epilog. Andrus Horvat

Der größte Erfolg der weißrussischen Literatur der letzten zehn Jahre ist der Blog des Schriftstellers Andrus Horvat. Er wurde in Buchform unter dem Titel Radio Prudok veröffentlicht und in einer für Weißrussland unglaublichen Auflage von 8000 Exemplaren verkauft. (Die durchschnittliche Auflage liegt bei 300 Exemplaren.) Horvat schreibt nicht einfach nur auf Weißrussisch. Er schreibt im Dialekt von Polessk, der sich von der Schriftsprache unterscheidet. Er ist Anfang 30, war verheiratet und hat ein Kind. Er arbeitete als Wächter im Janka-Kupala-Theater. Vor einigen Jahren zog Horvat in ein abgelegenes Dorf und ließ sich im Haus seines Großvaters nieder. In seinem Blog ging es darum, wie er im patriarchalischen Dorf Polessk lebt und liebevoll ein Holzhaus restauriert. Das alte romantische Sujet im Geiste Johann Gottfried Herders zog augenblicklich und für alle unerwartet die Aufmerksamkeit auf sich. Horvat wurde von literarisch interessierten Jugendlichen in der U-Bahn gelesen, er wurde zitiert und man stritt sich über ihn.

Das Geld für die Veröffentlichung der ersten Ausgabe kam schnell zusammen. Die ersten 700 Exemplare waren in wenigen Stunden vergriffen. Die nächsten 700 standen weniger als einen Tag zum Verkauf. In diesem Jahr inszenierte das Theater, in dem Horvat einst gearbeitet hatte, ein auf seinem Buch basierendes Theaterstück. Die Tickets sind ein halbes Jahr im Voraus ausverkauft. Als die Aufregung nachließ, unternahm Horvat eine längere Reise durch Europa, an deren Ende er in einem Beitrag schrieb, dass Europa seine Haus sei. Genauso wie das Haus seines Großvaters. Er schrieb wieder im Polessk-Dialekt.

In den letzten 100 Jahren ist die Generation Horvats nicht die erste, die ihre Liebe zur weißrussischen Sprache, zu Weißrussland und zu Europa bekennt. Am häufigsten wird der bekannte Minsker Philosoph Wladimir Mickiewicz zu beliebigen Fragen über die weißrussische Nation zitiert: Ich habe darauf bereits 1985 geantwortet. Finden und lesen Sie es nach, ich bin es leid mich zu wiederholen!

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Generation, die Horvats Blog und seiner Liebeserklärung an Europa mag, letztendlich zu Kompromissen gezwungen sein wird, so wie auch schon die Vorgänger. Die Situation an der Schwelle zur Volksrepublik wird weiter fortbestehen. Die Frage ist, was zuerst endet: der Traum vom eigenen Land oder die Trägheit tiefer Abhängigkeit von Moskau.

Mickiewicz wurde 1956 geboren. Seine Generation war sich sicher: Ein „europäisches und nationales“ Weißrussland wird unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR auf der Landkarte erscheinen. Leider hat sich ihre Vorhersage nicht erfüllt. 1995, vier Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, hielt Lukaschenko ein Referendum ab und setzte die 1950 eingeführte sowjetische Flagge und das Staatswappen Weißrusslands wieder in Kraft. Die weißrussische Gesellschaft steht an der Schwelle. Lukaschenko hat das Projekt des dekorativen sowjetischen Nationalismus wiederbelebt. Wladimir Mickiewicz und seine Leser*innen träumen weiter vom liberalen bürgerlichen Nationalstaat.

Die jungen Weißruss*innen, die über ihre Zukunft nachdenken, entscheiden in erster Linie die Frage, was am Ende den Sieg davontragen wird: die Trägheit der Kolonie oder der Traum von einem Nationalstaat. Dem Erfolg von Horvats Polessk-Dichtung nach zu urteilen, möchten sie, dass ihr Land Litauen und Lettland ähnlicher wird. Ihrem Wunsch nach Emigration nach zu urteilen, glauben sie nicht wirklich an ihren Erfolg. Ihren Reaktionen während der Diskussion der Ergebnisse einer Studie in Minsk nach zu urteilen, sind sie überhaupt nicht glücklich über die Aussicht, das Schicksal früherer Generationen zu wiederholen.