Herausforderungen der Zukunft
Redebeitrag von Iryna Starovoyt während der Diskussion in Lwiw
Sie sagten, dass
heute wirklich eine akute Krankheit darin besteht, dass die jungen
Menschen zur Klasse der Überflüssigen zu gehören drohen. Was
glauben Sie, welche Fähigkeiten sollte die heutige Jugend
entwickeln, um nicht versehentlich in diese Klasse zu geraten?
Heutzutage geht man üblicherweise davon aus, dass es für junge
Menschen nicht reicht, nur einen Beruf zu haben. Vielleicht wäre es
in diesem Fall eine Lösung, mehrere Berufe auszuüben? Mich würde
ferner Ihre Meinung interessieren: Welche anderen Heilmittel gibt es
in dieser Situation?
Ihre Frage geht mir sehr nahe. Meine
Tochter ist jetzt in einem Alter, in dem sie als junge Frau gelten
kann, und das Letzte, was ich in meinem Leben wünsche, ist, einen
weiteren jungen Menschen großzuziehen, der überflüssig ist. Vor
kurzem habe ich mich gefragt: Zu welcher Generation gehörte ich hier
in der Ukraine in den neunziger Jahren? Ich habe über zwei Dinge
nachgedacht. Erstens waren wir eine Generation, die im klassischen
Sinne keine Phase der Auflehnung gegen die Eltern durchlebte, weil
unsere Eltern während des Zusammenbruchs der Sowjetunion
wirtschaftlich, sozial und an Ansehen so viel verloren hatten und
dermaßen unwissend waren, dass sie selbst wie Teenager wirkten. Wenn
nun auch noch wir gegen sie rebelliert hätten, hätten wir sie in
den meisten Fällen vermutlich in den Selbstmord oder Herzinfarkt
getrieben. Ich glaube, es gab einen Moment, in dem sich die Eltern
unserer Generation absolut überflüssig fühlten. Das alte System
war zusammengebrochen und in wenigen Nächten hatten sie alle ihre
Ersparnisse verloren, wenn sie überhaupt welche gehabt hatten. Sie
wussten nicht, wie die Eigentumsrechte in der neuen Situation
aussehen würden; sie hatten keine Vorstellung davon, ob die Betriebe
und Fabriken, in denen sie arbeiteten, weiterhin bestehen würden; ob
es ausreichen würde, nur ihre eigene Sprache zu sprechen, um im
Beruf zu bleiben, usw. Es war sehr beängstigend, doch ich weiß,
dass meine Generation aus dieser Zeit eher optimistisch als
pessimistisch hervorgegangen ist. Damals schien uns alles sehr
schlecht zu sein. Doch in jener Welt gab es uns noch nicht und wir
können jetzt alles anders machen – so dass es in 10–15 Jahren
unsere Eltern, uns selbst und auch unseren Kindern besser gehen wird;
dass wir ein normales Land mit geordneten Lebensverhältnissen
aufbauen und in diesem Land jeder ohne Ausnahme seinen Platz finden
wird. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich dieses nur auf
Menschen projizieren, die sich in einer Krisensituation befinden oder
das Gefühl der Nutzlosigkeit haben, und die Formel „Hier gab es
alles, doch uns gab es noch nicht“ scheint mir sehr wichtig zu
sein. Ich finde es viel trauriger, als junger Mensch in einem Land zu
leben, in dem alles gut, alles harmonisch ist.
Ich liebe diese
Geschichte über die Arbeiter aus dem armen und hungrigen Irland, die
Mitte des 18. Jahrhunderts überredet wurden auf einem neuen
Kontinent auszuwandern, wo die Straßen großer Städte mit Gold
gepflastert waren. Und als die irischen Arbeiter dort ankamen,
stellte sich heraus, dass sie von Sümpfen umgeben waren, und dass
sie sich ihr goldenes Pflaster selbst erst noch verlegen mussten. Mir
scheint, dass die jungen Menschen ihre Zukunft im übertragenen
Sinne am Arsch der modernen Welt finden und dass sie sich in der Tat
alles erst noch selbst errichten müssen. Stellen Sie sich vor, die
kommen in eine Welt, in der die ökologische Situation die schlimmste
der gesamten geologischen Geschichte unseres Planeten ist. Wir
wissen, dass unsere Zukunft beim Fortbestehen der derzeitigen
Wirtschaft auf Grundlage der Ausbeutung kohlenstoffbasierter
Ressourcen nur für die nächsten 10–15 Jahre gesichert ist.
Darüber hinaus wird diese Formel nicht mehr funktionieren. Der
Vorrat an gutem Trinkwasser geht uns aus. Allmählich haben wir immer
weniger Möglichkeiten, qualitativ hochwertige, genetisch
unveränderte Lebensmittel zu kaufen. Und dennoch dienen einige
globale Prozesse zum Besten.
Ich möchte Ihnen die Grundidee
von Hans Roslings Buch Factfulness
vortragen, das mir unser Moderator Wolodja Beglow empfohlen
hat. Die geht so: Wir denken viel schlechter über unsere Welt, als
statistisch gesehen gerechtfertigt wäre. Ein Beispiel: Menschen aus
15 hochentwickelten Ländern wurden gefragt: „Was glauben Sie, wie
viel Prozent der jungen Frauen aus unterentwickelten Ländern haben
Zugang zu einer mittleren Schulbildung?“ Die richtige Antwort
lautete nicht 20–25%, wie die Befragten glaubten, sondern
durchschnittlich 60%. Und dieser Wert wächst jährlich.
Glauben
Sie, dass der Unterschied zwischen Armen und Reichen in den letzten
Jahren zu- oder abgenommen hat? Ja, es stimmt: Er hat sich zwischen
den Ärmsten der Armen und den Reichsten der Reichen vergrößert. Es
gibt jedoch immer weniger arme Menschen auf der Erde, genauso wie es
immer weniger Reiche gibt, vor allem in der Mittelschicht. Das
Einkommen der Mittelschicht ist also in dieser Zeit gesunken. Aber
unsere Welt sieht wie „mit einem Buckel“ aus: Wir sind alle mehr
oder weniger gleich. Es ist bemerkenswert, dass in den Ländern der
sogenannten „Dritten Welt“ die Anzahl der Menschen, die einmal im
Jahr mit dem Flugzeug irgendwohin fliegen können, ständig steigt.
Schon in 5–7 Jahren wird die Zahl der Menschen, die in
einkommensschwachen Ländern leben und einmal im Jahr mit dem
Flugzeug fliegen, die Zahl der Menschen aus reichen Ländern
überschreiten, die das Flugzeug genauso einmal jährlich nutzen. Und
dies wird geschehen, weil es viele Menschen gibt, die es sich
eigentlich leisten könnten, dieses Transportmittel zu nutzen, doch
sie fliegen beispielsweise einfach nicht gerne. Wenn wir also die
Welt so betrachten, wie sie von den Medien dargestellt wird, so
erscheint uns die Welt in schlechtem Licht, weil nur negative
Ereignisse heute als Nachrichten verbreitet werden. Wir hören zum
Beispiel von Amokläufen in amerikanischen Schulen, die sich jetzt
alle zwei bis drei Monate wiederholen. Es gibt jedoch Zehntausende
anderer amerikanischer Schulen, an denen so etwas nicht passiert und
alle Kinder am Ende des Schultages glücklich nach Hause gehen. Das
heißt, wir haben von Journalisten die schlimmsten Ereignisse
erfahren und nichts vom Rest gehört. Und ich denke, heutzutage
müssten junge Menschen in dieser Welt eigentlich anders surfen, um
Informationen zu erhalten. Die größte Herausforderung meiner
Generation war es, Prüfungen zu bestehen. Ich glaube, die wichtigste
Herausforderung Ihrer Generation wird darin bestehen, nach nicht
bestandenen Prüfungen aus diesem Versagen die richtigen Schlüsse zu
ziehen und zu lernen zu verlieren. Wir haben nicht gelernt richtig zu
verlieren: ohne auf die ganze Welt böse zu sein, ohne zu hassen und
ohne sich nach Rache zu sehnen. Wir müssen lernen, die persönlichen
Grenzen unserer Mitmenschen zu respektieren und in der Lage zu sein,
Gespräche zu führen. Mithilfe von Gadgets oder vielleicht einem in
uns eingebauten „dritten Ohr“ werden wir in fünf bis zehn Jahren
in der Lage sein, alle Sprachen der Welt zu sprechen, fast wie die
Apostel. Aber bedeutet das, dass wir uns gegenseitig besser verstehen
werden? Die Kunst des Dialogs bedeutet also etwas anderes als die
Kenntnis von einer, zehn oder zehntausend Fremdsprachen. Auf uns
warten sehr interessante Herausforderungen und neue Problemlösungen.
Mir scheint, dass Ihre Generation mit der Entwicklung der Bereiche
und Berufe konfrontiert sein wird, die man als humanitäre Berufe
bezeichnen könnte. Ich glaube, Sie können etwas von den Großeltern
lernen, die als Rentner immer Zeit und Aufmerksamkeit für Sie haben
(oder hatten).
Auf Facebook lese ich die Beiträge einer
teilweise virtuellen Frau. Sie lebt in Lwiw und heißt Großmutter
Dosja. Soweit ich weiß, wird ihr Profil von ihren Enkelkindern
betreut, und die Geschichten, die sie dort erzählen, sind echt.
Eines Tages kam der kleine Nachbar Ostaptschik zu Besuch, um mit
Großmutter Dosja zu spielen. Dosja hat die frisch gewaschene Wäsche
noch nicht ausgewrungen, die Gurken im Garten nicht gejätet und auf
dem Herd kocht der Borschtsch. Sie schaltet kurzerhand den Herd aus,
verschiebt das Auswringen und Jäten auf später und geht zum Zaun:
„Ja, Ostaptschik, natürlich habe ich Zeit. Lass uns spielen!“
Ich
denke, wir beschweren uns alle über Zeitmangel. Aber biologisch und
psychologisch haben wir 24 Stunden am Tag und 365 bis 366 Tage im
Jahr, was bedeutet, dass wir die Zeit nur falsch nutzen. Mir scheint,
dass Ihre Generation der Welt und sich selbst die entscheidende Frage
stellen wird: „Was ist in meinem Leben am wichtigsten?“ Und im
Alter werden Sie nicht mit leeren Händen dastehen, die Risiken
bedauern, die Sie nicht eingegangen sind, und Sie werden den Dingen
nicht nachtrauern, die Sie versäumt haben. Sie werden eine andere
Beziehung zur Welt aufbauen. Ich finde es bemerkenswert, dass die
meisten Eskimos jetzt genauso mit dem Internet verbunden sind und in
denselben sozialen Netzwerken registriert sind wie Sie. Heute können
wir uns sogar online anschauen, wie ein Adler seine Küken im Nest
versorgt. Wir haben die Mittel in der Hand, praktisch alles, was auf
unserem Planeten geschieht, in Echtzeit zu sehen, zu hören und zu
verstehen, aber können wir auch einen anderen Menschen verstehen?
Daher sind meiner Meinung nach Berufe im Zusammenhang mit der
Humanität außerordentlich wichtig und gefragt, genauso wie alles,
was mit der Sinnsuche und den richtigen Antworten auf die richtigen
Fragen zu tun hat.
Yuval Noah Harari sagt: Der Beruf eines
Philosophen wird in den nächsten 50–100 Jahren ganz sicher nicht
automatisiert werden, da philosophische Fragen immer dringlicher
werden. Beispielsweise werden bald auf allen Straßen der Welt mit
Hilfe künstlicher Intelligenz selbstfahrende Fahrzeuge zu sehen
sein. Doch es läuft darauf hinaus, dass die richtigen Algorithmen
sie steuern. Stellen wir uns die folgende Situation vor: Ein Auto ist
unterwegs, eine Person schläft auf dem Rücksitz. Da rennen zwei
Jungen einem Ball hinterher auf die Straße. Was macht das
selbstfahrende Fahrzeug? Ist der Algorithmus so programmiert, dass er
die Insassen retten soll, werden die Jungen totgefahren. Ist der
Algorithmus so programmiert, dass er im Notfall zwei Menschen rettet,
indem er einen opfert, so muss das Auto offensichtlich von der Straße
abbiegen, auch wenn es sehr wahrscheinlich ist, dass dabei der
Insasse im Auto getötet wird. Und wenn wir den Markt alles selbst
regulieren lassen, werden Sie die Wahl haben: „Elektroauto-Altruist“
oder „Elektroauto-Egoist“. Wenn Sie ein Auto kaufen, wissen Sie
im Voraus, ob es im Notfall eher Sie oder eine andere Person tötet.