Essay von Fedor Krasheninnikov

Störende Jugend

Ein Essay von Fedor Krasheninnikov zur Diskussion in Jekaterinburg

Das Verhältnis von Jugend und Herrschaft im heutigen Russland lässt sich ausgehend von drei Thesen beschreiben. Erstens gibt es im Russland unserer Gegenwart wenige junge Menschen, und umso weniger solche, der politisch aktiv oder zur politischen Aktivität bereit sind. Zweitens sind sie ganz anders, als die Regierungsmitglieder in ihrer Jugend waren. Und drittens hat die Obrigkeit keineswegs vor, sich zu ändern. Ihrer Ansicht nach ist es die Jugend, die sich ändern und ihre moralischen und sogar ästhetischen Vorstellungen übernehmen soll, bevor sie das Recht auf Mitsprache erhält und ihre Meinung bei Entscheidungen berücksichtigt wird.

Dass die Zahl junger Menschen in Russland gering ist, kommt dem Regime sehr entgegen. Die demographische Situation erlaubt es, die Jugend in der Politik einfach zu ignorieren. In der politischen Arbeit setzt die Regierung lieber auf ältere Generationen, mit denen sie sich wohler und sicherer fühlt. Der demographische Rückgang schützt außerdem das russische Regime vor der Bedrohung durch massive Straßenproteste, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Alle Debatten über ein zweites „Maidan“ in Russland nützen daher am meisten denen, die Geld damit machen, ein solches Ereignis zu verhindern. Damit Millionen junger Menschen auf die Straße gehen, muss es im Land zunächst einmal viele junge Menschen geben, nur so können die Aktiven unter ihnen eine nennenswerte Zahl erreichen. Man darf auch nicht vergessen, dass die russische Jugend auf einem riesigen Territorium verstreut ist und sich auf Grund der logistischen und finanziellen Situation oft nur schwer fortbewegen kann.

Trotzdem kann die Jugend zur Avantgarde im politischen Prozess werden und ist auch bereits dabei. Die ersten Anzeichen bekam die Staatsmacht 2017/18 zu spüren. Ihre Reaktion ist zynisch, aber recht wirkungsvoll: Sie marginalisiert junge Menschen, indem sie über die staatlich kontrollierten Massenmedien, deren Zielgruppe ältere Bevölkerungsschichten sind, die These verbreitet, die Jugend sei per se infantil, unseriös und gefährlich. Im Grunde hat man den Weg zur größeren Spaltung der Generationen eingeschlagen: Die Älteren werden zu Trägern alles Schönen und Guten erklärt, die Jungen – alles Fremden und Gefährlichen. Folgerichtig scheint die Rechtfertigung repressiver Praktiken: Lehrer dürfen und sollen auch mal laut werden, Hochschullehrer einschüchtern, und Sicherheitskräfte junge Aufrührer aus völlig absurden Gründen verhaften. Denn wenn man das nicht mache, „passiert das Gleiche wie in der Ukraine“ – diese Behauptung stößt immer noch auf offene Ohren, insbesondere beim älteren Auditorium.

Ähnliche Vorgänge gab es schon 2012/2013. Zynisch hetzte das Regime damals die einfache Arbeiterschaft gegen den urbanen Mittelstand, die sogenannten „Bürohamster“, auf.

Des Weiteren macht die verhältnismäßig geringe Zahl junger Menschen effektive punktuelle Maßnahmen möglich: Manche werden von der Regierung aufgekauft und „einverleibt“, andere eingeschüchtert und neutralisiert, und der Großteil einfach ignoriert.

Wenn die Aktivsten unter ihnen verhaftet werden oder emigrieren, ist das für das Regime jedenfalls von Vorteil. In nächster Zeit braucht man also keine Einführung von Ausreisevisen zu befürchten: Der Staatsmacht kommt es nur entgegen, wenn alle Unzufriedenen ausreisen, die jungen Unzufriedenen sowieso.

Die Heterogenität der Jugend

Das Hauptproblem in der politischen Arbeit mit jungen Zielgruppen liegt für die Staatsführung darin, dass die heutige Jugend überhaupt nicht so ist, wie sie selbst in ihrer Jugend war. Sie ist noch nicht einmal so, wie sie sie sich vorstellt. Die Vorstellung von der Jugend als etwas Einheitlichem war ohnehin schon immer zweifelhaft, und in unserer Zeit ergibt sie überhaupt keinen Sinn mehr. Schon in der späten UdSSR spaltete sich die Jugend in zahlreiche Schichten mit den unterschiedlichsten Lebenskonzepten und Wertvorstellungen auf. Und in den Jahren seit dem Zerfall der Sowjetmacht hat sich die Gesellschaft radikal verändert.

Noch nie waren die Menschen in Russland so verschieden und lebten so verschieden wie heute. Das Leben in Moskau ist anders als in Sankt-Petersburg, das Leben in den beiden Hauptstädten anders als in anderen Millionenstädten, wobei jede von ihnen ihre Besonderheiten hat. Ein ganz anderes Leben lebt man in Kleinstädten und auf dem Land. Aber der Hauptunterschied liegt im materiellen Wohlstand. Arm und Reich besuchen unterschiedliche Schulen, leben in verschiedenen Stadtteilen und haben ganz unterschiedliche Probleme.

Andererseits hat das Internet, allen voran die sozialen Netzwerke, eine ganz neue Realität geschaffen. Generationen, die mit sozialen Netzwerken groß geworden sind, sind anders als jene, die dort erst im bewussten Alter oder gar nicht aktiv wurden. Informationsbeschaffung über soziale Netzwerke formt völlig andere Lebensansichten. Die Möglichkeit, selbst Informationen zu streuen und anhand der eigenen virtuellen Aktivität berühmt zu werden, lässt eine neue Art von Leadership entstehen, die in der Jugendkultur weit verbreitet und älteren Generationen völlig unverständlich ist.

Ein eigenes Thema ist die offen prowestliche Orientierung der Jugend, die von allen Studien bestätigt wird. Während man sich in der Sowjetzeit prowestliche Haltungen aneignen, also gewisse Anstrengungen unternehmen musste, um westliche Musik zu hören, Filme zu sehen oder Güter zu erwerben, ist die heutige russische Jugend einfach ihrem Lebensstil nach prowestlich. Sie hört dieselbe Musik wie ihre Altersgenossen auf der ganzen Welt, sie schaut dieselben Serien, liest dieselben Bücher und trägt dieselbe Kleidung (oder träumt davon, sie zu tragen). Selbst wenn sie sich als Patrioten und Nationalisten begreifen, verbleiben junge Russen innerhalb des westlichen Paradigmas von Leben und Konsum: Kleidung, Technik, Reisen und Ausbildung sind heute untrennbar mit der westlichen Zivilisation verbunden – alternative Konzepte gibt es außerhalb von Randkulturen nicht.

Die Verschiedenartigkeit der Jugend schafft eine interessante Situation: Wenn die sozialen Bedingungen, die geographischen Gegebenheiten und praktischen Lebensumstände junger Menschen so unterschiedlich sind und die Zugehörigkeit zur selben Altersgruppe der einzige gemeinsame Nenner ist, ist es schwer, fast unmöglich, etwas zu finden, das die Jugend zwingt, sich auf einer für das Regime vorteilhaften Position zu verbünden. Alle Diskussionen über die Notwendigkeit einer staatlichen Jugendpolitik laufen dabei auf die Gründung eines „neuen Komsomol“ hinaus. Ähnlich wie in der Jugendorganisation der KPdSU möchte man junge Bürger zusammenführen, um sie leichter kontrollieren und bei Bedarf für Regierungsinteressen mobilisieren zu können. Dass dieses Prinzip selbst zu Sowjetzeiten schlecht funktionierte und schon gar nicht die UdSSR vor dem Zusammenbruch retten konnte, wird ignoriert. Verständlich, denn die Ideologen der Regierung haben auch nichts Interessanteres und Gehaltvolleres im Kopf als veraltete sowjetische Konzepte – sie für untauglich zu erklären, wäre für sie unmöglich und unrentabel. Und wofür sonst sollte man außerdem staatliche Fördergelder beziehen? Individuelle politische Arbeit ist teuer und schwer umzusetzen, und sie bringt keinen Profit. Ganz anders sieht es doch aus, wenn man innerhalb einer gewissen politischen Struktur Milliarden erhält, und dann mit schönen Diagrammen und gefälschten Statistiken über ihre Erfolge berichtet. Genau darauf baut eigentlich die gesamte staatliche Jugendpolitik auf.

Und natürlich ist es unmöglich, junge Russen mit „Komsomol“-Parolen und Sowjet-Nostalgie auf praktischer Ebene zu motivieren. Auch, dass ein Teil der Jugend bereit ist, nach den vorgelegten Spielregeln zu spielen und die Parolen von oben nachzubeten, ist kaum weiter ernst zu nehmen. Junge Anhänger der Sowjetunion sind im Grunde nur eine von vielen Subkulturen. Hier kann keineswegs die Rede von irgendeiner tiefen Überzeugung sein. Schon gar nicht von der Bereitschaft, das Smartphone aus der Hand zu legen und in einer Jugendbrigade Stoßarbeit zu verrichten.

Widersprüche zwischen den Generationen

Die russische Regierung setzt sich aus gealterten Komsomol-Mitgliedern der 70er- und 80er Jahre mit typischen Geheimdienstlerbiographien zusammen. Die Staatsspitze wird zwar von viel breiteren Bevölkerungsschichten gestützt, macht aber kein Geheimnis daraus, dass ihre Prioritäten bei höheren Altersgruppen liegen. Das hat eine Reihe von teils durchaus rationalen Gründen.

Der niedrige Anteil an jungen Menschen in der Bevölkerung und der unüberbrückbare Unterschied zur regierenden Generation erklären, warum die offiziöse „Jugendpolitik“ in Putins Russland nicht etwa die soziale Mobilität fördert, sondern nur sinnloses rituelles Geplänkel ist. Während man vom „Jugendparlament“ zur „Jugendregierung“ oder „Jugendlichen Wahlkommission“ tingelt, kann man alt werden, ohne jemals Zugang zur realen Macht zu erhalten – es sei denn, man genießt Protektion von oben. Man kann sogar Abgeordneter werden – aber das wird einen kaum ins reale Zentrum der Macht führen, und man kann lange Jahre damit verbringen, auf der politischen Hinterbank zu sitzen und gehorsam so zu stimmen, wie man angewiesen wurde.

Zu Recht werden junge oppositionelle Aktivisten von der Regierung als potentielle, hochgefährliche Konkurrenten wahrgenommen. Sie haben ein entscheidendes Ass im Ärmel – das richtige Alter. So sehr sie sich auch bemühen, jugendlich zu erscheinen, werden die betagten russischen Staatsführer von Jahr zu Jahr älter, während hinter den emigrierten oder eingeschüchterten jungen Staatsbürgern immer neue nachrücken.

Wir sind Zeugen eines knallharten, zynischen Generationenkonflikts. Die Greise der Politik sind nicht bereit, ihre Macht an die talentiertesten, vielversprechendsten Vertreter jüngerer Generationen weiterzugeben. Zum Einen haben diese Greise gar nicht vor, jemals abzutreten, zum Anderen haben sie Kinder, Verwandte, Liebhaber und Liebhaberinnen, denen sie Russland überlassen wollen. Wenn andere Menschen aus breiteren Bevölkerungsgruppen mitregieren wollen, ruft das bei ihnen nichts als Entsetzen hervor.

In Ländern mit gut entwickelter Demokratie hingegen können junge Menschen nicht nur ungehindert Teil der Regierung werden, sie nehmen manchmal sogar Spitzenpositionen in der Exekutive ein. Ein charakteristisches Beispiel ist der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Dabei gibt es in Österreich keineswegs einen demographischen Boom und so viele junge Menschen, dass sie sich einfach der Gesamtgesellschaft aufdrängen. Vielmehr ist ein funktionierendes politisches System auch deswegen auf die Zukunft, auf die Entwicklung neuer Bedingungen und die Anpassung daran ausgerichtet, weil junge Politiker und Führungskräfte gefragt sind. Denn sie sind es, die das Land in die Zukunft führen und mit Altersgenossen zu tun haben werden, die früher oder später auch in anderen Ländern an der Spitze stehen werden.

Das russische System dagegen ist, wie gesagt, ausschließlich auf die Konservierung der aktuellen Ordnung ausgerichtet. Der Jugend werden hier zwei Möglichkeiten geboten: Die Interessen der Macht zu bedienen oder sich von jeglichen eigenen Machtansprüchen loszusagen.

Die Angst vor Neuem, vor neuen Generationen in der Politik ist deutlich zu spüren.

In funktionierenden Demokratien bilden regionale Regierungen und Stadträte die erste Stufe für eine politische Karriere. Lokalpolitische Fragen sind auch für diejenigen interessant, die sich sonst nicht für Politik interessieren – Ökologie, Stadtplanung, öffentliche Verkehrsmittel: All dies beschäftigt die Menschen tatsächlich. Man könnte jungen Aktivisten wenigstens hier die Gelegenheit geben, sich zu verwirklichen.

Doch in Russland sind die Stadträte genauso gründlich ausgesiebt wie alle anderen Regierungen. Und das hat seine Logik: Kaum lässt man Personen, die nicht von oben abgesegnet sind, in den Machtapparat, beginnen schon die Probleme. Denn der Hauptunterschied zwischen einem an den Wählern orientierten und einem von oben genehmigten Politiker besteht darin, dass man den ersteren nicht ins Kabinett zitieren kann, um ihm zu erklären: „Du verstehst doch, dass du so und so stimmen musst“. Den genehmigten Politiker muss man eigentlich gar nicht erst zu sich zitieren, denn er weiß von sich aus, dass er immer und überall so stimmen und so sprechen muss wie die älteren Genossen, und keine Meinung haben soll, die sich von der Meinung der Obrigkeit unterscheidet.

Das neue Russland

Der Zynismus von Putin und seinem Umfeld ist ganz offensichtlich: Sie wollen in alle Ewigkeit regieren und stützen sich dabei auf die Stimmen der hörigen Bevölkerung. Jenen Personen also, die umständehalber von ihren Vorgesetzten abhängig sind: Vertreter des Militärs und der Geheimdienste, Mitarbeiter staatlicher Unternehmen und gleichgestellter oligarchischer Holdinggesellschaften, unterschiedliche Gruppen, die staatliche Fördergelder beziehen und Privilegien zu verlieren haben.

Die Jugend, wenn sie nicht gerade Staatsuniform trägt oder der sich bei der Lohnarbeit abschuftet, ist in diesem Schema überflüssig. Schon wegen ihres Alters haben junge Menschen mehr Energie und Bereitschaft, Widerstand zu leisten, und das wird als Bedrohung wahrgenommen.

Wäre die Führung der Sowjetunion zynischer und pragmatischer gewesen, hätte sie Menschen, die aus der UdSSR ausreisen wollten, nicht daran gehindert; jedenfalls nicht an einer Ausreise ohne Rückkehr. Doch im Vergleich zur Regierung Putins war die Sowjetregierung eine Diktatur der Romantiker: Breschnew, Andropow und Tschernenko glaubten bis zum letzten Atemzug, dass der Sozialismus der richtige Weg sei und alle Probleme nur daher rührten, dass irgendwo irgendeiner zu wenig arbeitete. Die Sowjetmacht versuchte, die Menschen mit eiserner Hand ins Glück zu jagen, und hielt sich dabei allen Ernstes für eine Macht des Volkes, in erster Linie eine Macht des arbeitenden Volkes. Zum Ende der Sowjetzeit hin waren all diese ideologischen Postulate zwar nicht mehr ganz frisch, doch sie blieben Axiome.

Bei Putin und seinem Umfeld hingegen sind Äußerungen zum Wohlergehen des Volkes nichts als rituelle Worthülsen. Diese Regierung fühlt sich nicht im Geringsten verpflichtet, das Leben der Menschen zu verbessern. Darum ist sie durchaus einverstanden, wenn alle Unzufriedenen, die nicht im Gefängnis sitzen und Erniedrigungen ertragen wollen, nach Europa oder Amerika emigrieren. Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen bringt die aktuelle Regierung Russlands schon gar nicht in Verlegenheit: Jeder, der unter anderen ökonomischen Bedingungen leben möchte, kann problemlos ausreisen und sogar Kapital mitnehmen, ohne groß dafür belangt zu werden. Für die berühmt-berüchtigte „neue Aristokratie“, also Beamte, Angehörige von Militär und Geheimdiensten und ihre Familienmitglieder, ist dies sogar eine positive Entwicklung: Letzten Endes landen die Unternehmen, die Auswandernde vor der Ausreise verkaufen, in ihrem Besitz. Begreift man Putins Russland als zynisches Projekt, das die Rahmenbedingungen für die Bereicherung einer bestimmten Gruppe schaffen soll, so ist all dies logisch und folgerichtig.

Das traurige Vermächtnis des Putinismus wird man viele Jahre aufräumen müssen. Dass sich ein gewisser Prozentsatz der Jugend durchaus getreu der Losungen des Regimes entwickelt, wird später ein Problem sein. So wie der Putinismus auf sowjetischem Nährboden gediehen ist, wird aus dem putinistischen Nährboden in den Köpfen der heutigen Jugend letztlich Revanchismus erblühen. Trotzdem, die Jugend wird früher oder später Verantwortung für das Land übernehmen, und das stimmt optimistisch: Es sind neue Menschen, und es wird auf jeden Fall ein neues Russland geben.